Michael Schmidt: 89/90

Kat. Haus der Kunst

Ausstellungskatalog, hrsg. von Thomas Weski
Text (dt./eng.) von Chris Dercon
100 S. mit 51 Fotoabbildungen in Duotone
Format 22,1 x 18,3 cm, Hardcover mit Schutzumschlag

ISBN 978-3-940953-43-8

198,00 €

Meisterwerke

»In seinem Œuvre«, schreibt Chris Dercon, »das bis ins Jahr 1965 zurückreicht, hat der deutsche Fotograf Michael Schmidt, geboren 1945 in Berlin, sich immer und immer wieder mit der in ständiger Veränderung begriffenen Stadtlandschaft seines Geburtsorts beschäftigt. Mit seinem Buch ›Waffenruhe‹ (1987), das einem neuen lyrischen Stil huldigte und Grau als dezidierte Farbe einsetzte, erlangte Schmidt internationale Anerkennung. In ›Waffenruhe‹ richtet Schmidt seinen Fokus auf die emotionalen Bedingungen des Ideologiewandels, wie sie sich in den urbanen Räumen Berlins und im Leben seiner Einwohner widerspiegeln. ›Ich machte einige Bilder, auf denen nur Suppe zu sehen ist – dieselbe Suppe, die damals im November herrschte‹, teilte Schmidt schon Ende der 1970er Jahre über einige seiner Berliner Aufnahmen mit. Spielte er, ohne es selbst zu diesem Zeitpunkt zu ahnen auf die spätere Suppe vom legendären Herbst 1989 an? Schmidt versteht sich jedoch nicht als sozialkritischer Fotograf. Er wolle die Welt nicht verändern, sondern leiste ihr Widerstand und betrachte sich als Realisten im Brecht’schen Sinne: ›Realismus ist nicht, wie die wirklichen Dinge sind, sondern wie die Dinge wirklich sind.‹ […]
In ›89/90‹ kommt die Mauer wieder vor. Oder besser: Wir sind eingeladen, uns anzuschauen, was sich bei oder nahe der alten Mauer befindet und vom neuen Berlin (noch) nicht beseitigt worden ist. Manche von Schmidts Szenerien wirken wie Fotos von Ausgrabungen. Es handelt sich dabei um ziemlich brüske Dispositive: Einzelne Gegenstände oder bloße Spuren nehmen das Auge des Betrachters mit einer Roh- oder Schutzlosigkeit gefangen, so als ob sie an einem Protestakt mitwirkten. Aber alle Dinge bleiben stumm. Wie auch in seinen Ausstellungen und anderen Büchern hat Schmidt in ›89/90‹ alle direkten Erklärungen und ausweisenden Untertitel weggelassen. Auf diese Weise gelingt es Schmidt, den historischen Status des jeweiligen Monuments oder Dokuments noch eindringlicher zu hinterfragen. Fürwahr, seine Fotografien von Berlin und dessen sagenumwobener Mauer stehen zuerst und vor allem für das, was Heidegger einst in seinem mit gleichlautendem Titel versehenen Aufsatz als ›die Zeit des Weltbildes‹ beschrieben hat. Für Heideggers ›wesentliches Denken‹ ist ein Weltbild kein Bild von der Welt, sondern die als Bild be- und ergriffene Welt. Genau diese Unterscheidung ist auch für die Vorgehensweise Schmidts kennzeichnend, wenn er den Beobachter mit dem Vorgang des Sehens als solchem konfrontiert. […]
Das gesamte fotografische Werk von Schmidt führt eine einzige große Ermittlung in der Frage, in welchem Zustand sich Deutschland befand, befindet und befinden wird. Michael Schmidts Bilder sind unmissverständlich ›Deutschlandbilder‹, und damit steht er in derselben Tradition wie seine Kollegen August Sander, Bernd und Hilla Becher und Hans-Peter Feldmann, allesamt ebenso exemplarische Fotografen der deutschen Staaten.« 

Ausstellung:
Haus der Kunst, München, 21/5–22/8/2010